Das Familientreffen by Anne Enright

Das Familientreffen by Anne Enright

Autor:Anne Enright [Enright, Anne]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-03-28T04:00:00+00:00


20

Während ich dies niederschreibe, sehe ich aus dem Fenster und halte Rücksprache mit der Leiche, die am Eingangstor in meinem Saab sitzt. Er (es ist immer ein Er) sitzt fortwährend da, eine zusammengesackte Gestalt auf dem Vordersitz, die sich bei näherer Untersuchung als die schräg gestellte Nackenstütze entpuppt. Doch obwohl ich das weiß, fühle ich mich von dem ausgestopften, ausdruckslosen Gesicht angezogen und frage mich, warum Er so geduldig ist. Er lässt seinen Blick unverwandt auf dem Armaturenbrett ruhen, wie ein Mann, der Radio hört und nicht ins Haus kommen wird. Ein Symbol für die Einsamkeit der Männer und deren Verstocktheit. Er wird nicht ins Haus kommen, meine Autoleiche, meine Unfalltestpuppe auf dem Vordersitz. Er wartet auf die letzten Fußballergebnisse.

Eigentlich will ich ihn gar nicht im Haus haben, aber das bedeutet nicht, dass ich froh bin, ihn dauernd in meinem Auto sitzen zu sehen, diesen Mann, der ziemlich derb von Geduld und Durchhaltevermögen spricht. Und von der Möglichkeit, dass Menschen sich nicht füreinander interessieren – jedenfalls nicht wirklich -, dass das Wichtigste in ihrem Leben Sport ist.

Ich kann mit ihm aufbleiben, oder ich kann nach oben gehen und mit meinem Mann schlafen.

Eine ganze Nacht ist eine sehr lange Zeit.

Ich bin völlig zerschlagen. Es begann irgendwann nach der Beerdigung, als Tom versuchte, mich von den Toten aufzuerwecken, indem er sich der Länge nach auf mich legte und mich küsste und rubbelte und alles Übrige. Aber darüber war ich hinweg – ich hatte es vergessen. Ich war wieder mit Schulfahrten befasst, mit Staubsaugen und mit Anrufen bei anderen Müttern wegen Dingen wie Verabredungen zum Spielen und wo man Rebecca Schuhe für den irischen Volkstanz kaufen konnte. Alles war traurig, aber völlig in Ordnung – gutes Essen, frische Luft, ein paar Gläser Wein zu viel und ab ins Bett. Und dann.

Hier kommt er – der Weckruf um vier Uhr morgens. Er kriecht in mich hinein, und als ich aufwache, packt mich langsam, unabweisbar das Grauen, sodass ich schreien könnte. Was ist? Er schläft mit einer anderen. Nein, das ist nicht der Weckruf um vier Uhr morgens. Der Weckruf um vier Uhr morgens ist viel älteren Datums und grässlicher.

Ich kann das Gewicht meines Körpers auf dem Bett nicht spüren. Ich kann die Grenze nicht spüren, wo meine Haut das Laken berührt. Ich schwenke meinen Körper ein paar Zentimeter von der Matratze, und ich glaube nicht mehr an mich – an die Art und Weise, wie ich atme oder mich umdrehe -, nicht mehr an Tom neben mir: dass er am Leben ist (manchmal erwache ich, finde einen Toten und erwache abermals). Oder dass er mich liebt. Oder dass irgendwelche unserer Erinnerungen geteilte Erinnerungen sind. Und so liegt er da, abgesondert, während ich den Glauben verliere. Er schläft auf dem Rücken. Und eines Morgens um – ja – um vier Uhr wache ich auf und entdecke eine bläuliche Schwellung an seinem hingestreckten Körper, ein der Verwesung nahes violettes Ding. Tom liegt hingebettet auf dem Rücken und schläft wie ein toter Heiliger oder wie ein Kind.



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